Experteninterview – „Deutschland strebt ein weltweit einmaliges System an“

Experteninterview – 17. März 2022

Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern setzt Deutschland bei der Energiewende fast ausschließlich auf Solar- und Windenergie. Wasserkraft gibt es kaum, Atomstrom ist nicht gewollt. Daraus resultieren große Herausforderungen für die Netzstabilität und Versorgungssicherheit. Wir haben Thomas Dederichs vom Übertragungsnetzbetreiber Amprion nach Lösungen und Visionen für die Energiewende gefragt.

Thomas Dederichs, Leiter Energiepolitik bei Amprion

Bis 2045 will Deutschland die Energiewende vollendet haben. Was sind die größten Herausforderungen aus Sicht eines Netzbetreibers?

Die Energiewende erfordert eine gravierende Veränderung unserer Infrastruktur für die Energieübertragung. Es ist ein Prozess, den wir in der Form seit dem Ende des zweiten Weltkrieges nicht mehr durchgemacht haben. In den 50er, 60er und 70er Jahren ist eine Menge an Infrastruktur aufgebaut worden, die danach eher nur noch verwaltet wurde.

Wir stellen fest, dass die Herausforderungen, die dieses Generationenprojekt Energiewende mit sich bringt, zum Beispiel der Umbau der gesamten Erzeugungslandschaft oder die Veränderung der Art und Weise wie Energie genutzt wird, an viele Folgefragestellungen gebunden ist. Es erfordert ein hohes Maß an Innovationskraft und Tempo in den kommenden Jahren. Das kann man gut an einer Zeitachse erklären.

In unserem Haus denken wir in drei Zeitabschnitten. Der erste ist ganz konkret der 01.01.2023. Da ist Deutschland das erste Mal seit 50 Jahren unabhängig von der Kernenergie. In den Köpfen der Politiker ist dieser Schritt schon vollzogen. In den Köpfen der Techniker leider noch nicht. Diese stehen vor ganz konkreten Herausforderungen wie z.B. Frequenzsprüngen zum Stundenwechsel. Diese Artefakte rühren daher, wie die Bilanzkreise bewirtschaftet und die Märkte organisiert wurden. Große Kernenergieanlagen haben bei der Spannungs- und Frequenzhaltung unterstützt, all das muss das System jetzt in sehr kurzer Zeit ohne diese Blöcke bewerkstelligen.

Wenn das geschafft ist, kommt der zweite Abschnitt im Jahr 2030, der Ausstieg aus der Kohleverbrennung. Neben der gesellschaftlich moralischen und ethischen Frage steht hier auch die technische Frage im Raum. Es wird zu diesem Zeitpunkt die nächste Kategorie an Schwierigkeiten auf uns zukommen, die bereits erwähnte Problematik der Spannungshaltung und Blindleistung ist nur ein Teil davon.

Und der dritte Zeitabschnitt?

Der dritte Abschnitt setzt nach dem Jahr 2045 ein. Bis dahin soll Deutschland klimaneutral sein. Das gesamteuropäische Ziel ist das Jahr 2050. Unser Bestreben auf dieser Zeitachse ist das Ziel eines weltweit einmaligen Systems. Andere Nationen, die den Weg der Klimaneutralität gehen, kombinieren in der Regel fluktuierende erneuerbare Energien mit Kernenergie, wie zum Beispiel Frankreich, oder mit Wasserkraft wie Österreich oder Skandinavien. Deutschlands Weg zur vollständigen Dekarbonisierung ohne Wasserkraft oder Kernenergie funktioniert am Ende nur durch Kombination fluktuierender erneuerbarer Energien mit Speichern. Das geht beispielsweise über das kurzfristige Speichern mit Batterien, wir werden aber über langfristige Speicheroptionen nicht umhinkommen. Das erklärt auch die intensive Diskussion über Wasserstoff und Power-to-Gas.

Sie haben mit verschiedenen Partnern zusammen das Gemeinschaftsprojekt „Systemvision2050“ ins Leben gerufen, das im Groben den Ausblick beinhaltet, den Sie uns gerade umrissen haben. Können Sie uns das etwas genauer erläutern?

Der Grundgedanke ist recht einfach. Mit den verschiedenen Partnern wird die Frage erörtert, wie das klimaneutrale Energiesystem im Jahr 2050 aussieht. In regelmäßigen Abständen treffen sich beispielsweise Übertragungsnetzbetreiber, unterbreiten Vorschläge, legen einen Szenariorahmen vor, den die Bundesnetzagentur zur Konsultation stellt und genehmigt. Aus diesen Plänen leiten wir ab, in welche Richtung sich die Infrastruktur entwickelt.

In diesen Diskussionen konnten wir feststellen, dass sich die Partner noch stärker einbringen wollen. Um diese Visionen transparent zu gestalten, wurde für die knapp zwei Dutzend Partner jeweils ein Entwicklungsplan erstellt, bei dem die Mitwirkenden die vollständige Kontrolle über den Entwicklungsstand des jeweiligen Zukunftsbildes hatten. Die einzige Voraussetzung war, dass am Ende ein vollkommen CO2-freies Energiesystem konzipiert werden musste. Ob dieses Ziel mit Kernenergie oder mit Carbon Capture and Storage , also der Abscheidung und Speicherung von CO2, oder dem Import von grünem Wasserstoff erreicht wird, war freigestellt. Wir haben den Partnern nur unsere Werkzeuge und Modelle zur Verfügung gestellt und nach einem Jahr die Ergebnisse unter Berücksichtigung verschiedener Parameter analysiert und mit Referenzwerten aus aktuellen Studien verglichen.

Was sind denn die bisherigen Ergebnisse?

Im Frühjahr wollen wir gerne alle Partner zusammenbringen und die neusten Erkenntnisse teilen, wo die Modelle auseinanderdriften und an welchen Stellen sie dicht beieinanderliegen. Beispielsweise ist der Strombedarf 2045 in einer engen Range. Unsere Modelle zeigen, dass sich der Stromverbrauch ungefähr verdoppeln wird. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Startpunkte ist das eine sehr spannende Erkenntnis. Es gab Teilnehmer, die Wasserstoff in den Wärmemarkt gebracht haben, und in ihrem Modell dementsprechend wenig elektrisch geheizt haben. Andere haben wiederum mit dem Import von Strom aus anderen europäischen Ländern modelliert. Trotzdem sind die Muster sehr ähnlich und der Verbrauch scheint eine relativ robuste Annahme zu sein.

Für eine stabile Stromversorgung ist in Zukunft ein hohes Maß an Flexibilität im Netz nötig. Diese kann z.B. über Batteriespeicher bereitgestellt werden, aber auch über den Ansatz der Laststeuerung. Wie bewerten Sie den Zwiespalt dieser beiden Methoden?

Das ist eine der spannendsten Fragen mit Blick auf die kommenden 25 Jahren Energiewende. Einer unserer Partner, die Firma Entelios, verfolgt den Ansatz des Demand-Side-Management. Das ist eine Modellierung mit sehr viel Nachfrageflexibilität, die dann auch zu weniger Netzausbau führt. Für den Netzbetreiber ist das von Vorteil, denn der Fokus liegt ja auf dem Ausbau eines möglichst nachhaltigen und robusten Netzes. Außerdem sind die Netzbetreiber auch der Volkswirtschaft verpflichtet und hochgradig reguliert. Es besteht kein Interesse mehr zu bauen als nötig, denn der Netzbetreiber wird nur für die sinnvollen Netze entschädigt.

Allerdings ist ein Mehr an Flexibilität nicht ohne Gegenleistung zu haben. Die Frage sollte doch sein, wie wir leben wollen. Wieviel Planwirtschaft und wieviel Freiheitsgrad ist in diesem System? Wenn ich Ihnen beispielsweise im Jahr 2045 vorschreibe, ob sie die Tagesschau sehen dürfen, und das auch nur, wenn der Wind weht, dann haben wir ein System, in dem im positiven Sinn maximale Effizienzen erreicht werden können. Bei der Übertragung auf die Industrie seht die Flexibilität im Vordergrund. Unsere Partner aus diesem Bereich wollen nicht wählen, ob sie Wasserstoff zur Verfügung gestellt bekommen oder Strom nutzen, um den Wasserstoff selber herzustellen. Dieser Zweig möchte über beide Varianten verfügen. Er möchte die Flexibilität besitzen, abhängig von den Weltmarktpreisen, zwischen diesen beiden Möglichkeiten wechseln zu können. Diese Erkenntnis ist spannend, wenn man sie historisch betrachtet. Unsere Infrastruktur waren immer überdimensioniert. Sie war nie auf die letzte Kilowattstunde ausgelegt, sondern so, dass der Verbraucher die Energie bei Bedarf abrufen konnte.

Kernkraft hat in keinem Konzept eine Rolle gespielt?

Ein deutsches Industrieunternehmen wollte die Option der 4.Generation-Kleinnuklearanlage für sich durchexerzieren. Die Ergebnisse wurden jedoch nicht veröffentlicht, diese Option stand allen Partnern frei. Den meisten Modellierungen im europäischen Ausland war tatsächlich noch Kernkraft unterstellt, selbst bei den NGO´s gab es wenige, die das kernenergiefreie Europa 2045 für zwingend erachtet haben. Es existiert hier eine Bandbreite an Modellierungen.

EM-Power Europe Conference

Wie lässt sich Strom aus erneuerbaren Energien in flexiblen Netzen effizient verteilen? Darüber diskutieren Experten am 10. und 11. Mai in München. Sie sprechen über die Integration von Solar- und Speichersystemen in das Netz, neue Marktakteure, Flexibilität und das Gleichgewicht der Netze sowie die digitale Evolution.

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